Dokumentarfilme haben es in Zeiten des 100 Millionen Dollar Mainstreamkinos schwer. Oft werden sie sträflich vernachlässigt und kommen erst gar nicht auf die Leinwände unserer Kinos. Ausnahmen wie Michael Moores Populismus-Projekte bestätigen nur die Regel. Umso aufmerksamer wird man, wenn ein Film aus Frankreich selbst auf DVD eine kleine Revolution unter Genrekennern auslöst.
Eine der ersten Szenen des Films: Durch einen kleinen Raum mit hochgestellten Stühlen schleichen langsam zwei Schildkröten durch das Bild. Eine symbolträchtige Aufnahme, denn in "Etre et avoir" verabschiedet sich der bekannte französische Dokumentarfilmer Nicholas Philibert von aller Effekthascherei - vom unübersichtlichen schnellen Schnitt und unverständlichen Erzählformen. Anstatt dem typischen dokumentarischen Voyeurismus einzubringen, versucht er endlich zu atmen und sucht freien Raum. Außerdem zeigt er durch die Kamera die Magie, die Menschen um sich versprühen und wie die grundlegenden Emotionen unseren Alltag bestimmen und lässt den Stellenwert des Wortes Zeit in einem ganz anderen Licht erscheinen. "Was glaubst du? Wie weit kann man zählen?" fragt der Lehrer seinen besten Schüler nach der Stunde. "Bis tausend?" antwortet dieser unsicher. "Und was ist mit 1001 und 1024?". Professor Lopez, Sohn spanischer Emigranten, lehrt in einer kleinen französischen Dorfschule irgendwo in der Auvergne. Unter den 13 Schülern, welche Lopez täglich selber mit einem kleinen Bus zur Schule fährt, befinden sich vierjährige Kindergartenkinder aber auch elfjährige Grundschulabsolventen. Die Kindergartenkinder sitzen ganz weit vorne im Klassenzimmer an sehr kleinen Tischen. Die Drittklässler sitzen in der Mitte des Raumes und die ältesten sitzen ganz weit links am Computer. Lopez korrigiert Diktate, versucht den jüngsten das Zählen beizubringen und kann aber auch mal philosophische Fragen stellen wie :"Warum gehst du zur Schule?". Er organisiert Schlittenfahrten im Winter, um zwei Minuten später mit dem kleinen Oliver über seinen kranken Vater zu sprechen. Philibert durchleuchtet das heutige Schulwesen und zeigt, dass die Fähigkeit des authentischen Erziehens, sowohl von Eltern als auch von Lehrern, verloren gegangen ist.Hat "Etre et avoir" nur deshalb solch eine Furore in Frankreich gemacht? Es sei angemerkt, dass die französische Kritikervereinigung den Film zum besten Film des Jahres 2003 gewählt hat. Man achte auf die Betonung: zum besten Film allgemein und nicht in der Kategorie Dokumentarfilm. Über zwei Millionen Zuschauer sahen den Film in Frankreich und somit war die Nominierung zum Cesar von der europäischen Filmakademie mehr als verdient. |
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