Erst vor wenigen Tagen, als der belgische Radprofi Wouter Weylandt bei der Giro d'Italia tödlich verunglückte, erinnerte sich die Weltöffentlichkeit wieder kollektiv an die unglaublichen Risiken, die der Spitzensport so oft in sich birgt. Auf tragische Weise musste dies auch der legendäre Formel-1-Fahrer Ayrton Senna erfahren, mit dessen Karriere und Schicksal sich der britische Filmemacher Asif Kapadia in seiner neuen Dokumentation beschäftigt.
Der tödliche Unfall des dreifachen Weltmeisters beim großen Preis von San Marino im Jahre 1994 liegt wie ein riesiger schwarzer Schatten über diesem packenden Film, dessen hochemotionaler Inhalt auch nicht ganz so sportbegeisterte Kinogänger in seinen Bann ziehen wird. Allerdings sollte man, bei all dem Lob für den so furios umgesetzten Film, auch kurz innehalten und sich ins Bewusstsein rufen, dass die Faszination am tödlichen Schicksal des Rennfahrers, welche die Macher von "Senna" durch ihre starke Dramatisierung der Ereignisse noch weiter verstärken, moralisch natürlich auch durchaus diskussionswürdig ist.
Auch wenn der Vergleich auf den ersten Blick etwas merkwürdig klingen mag, aber in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Schicksal von Ayrton Senna nicht groß von dem von Lady Di. Ob Rennsportzirkus oder britisches Königshaus ist nämlich vollkommen gleich - konfrontiert mit Filmaufnahmen aus den letzten Tagen dieser beiden Figuren, eventuell noch untermalt mit prophezeiend-tragisch klingender Musik, wird selbst der rationalste Mensch nur schwer dieses mulmige Gefühl im Bauch verhindern können. Hollywood spielt ja schon seit Jahrzehnten erfolgreich auf unserer Gefühlsklaviatur, doch selbst die besten Meisterwerke der Traumfabrik verblassen im Vergleich zu der Faszination, die solch reale Schicksale auf uns ausüben können.
Kein Wunder also, dass trotz einiger bereits vorhandener Dokumentationen über den Ausnahmesportler Senna sich nun noch einmal ein Filmemacher dessen Geschichte angenommen hat. Interessanterweise verzichtet Regisseur Asif Kapadia bei seinem Werk dabei auf jegliches aktuelles Bildmaterial, sondern beschränkt sich auf alte TV-Aufnahmen sowie Privatvideos von Senna, die ab und zu entweder von Sennas Schwester oder diversen Sportjournalisten kommentiert und so in den richtigen Kontext gesetzt werden. Der Fokus liegt dabei vor allem auf der Zeitspanne zwischen 1984 und 1994, insbesondere Sennas spektakulären Duellen mit Konkurrent Alain Prost und natürlich jenem tragischen Maitag vor 17 Jahren.
Die in Dokumentationen so vertrauten Talking Heads sucht man in "Senna" also vergeblich - und man kann nicht wirklich sagen, dass man sie vermisst. Die Entscheidung sich ganz auf altes Bildmaterial zu verlassen und aktuelle Kommentatoren nur über die Audioebene zu Wort kommen zu lassen, ist nämlich durchaus clever. Zwar sind viele der alten Original-Aufnahmen von einer wirklich bescheidenen Qualität, doch gerade deswegen, und weil sie nicht durch aktuellere Aufnahmen unterbrochen werden, sorgen sie dafür, dass man als Zuschauer sehr schnell das Gefühl bekommt Sennas Leben hautnah nach zu erleben. Die Vorliebe des Films für Nahaufnahmen von Senna unterstreicht die Absicht der Macher ebenfalls, hier so dicht wie möglich an ihrem Protagonisten dran bleiben zu wollen.
"Senna" ist ein hochemotionaler Film geworden, was aber nicht nur an dem unglaublichen Tempo des Films liegt, der genauso wie sein Protagonist immer genau an der richtigen Stelle Gas gibt. Nein, es liegt vor allem auch daran, dass seine Macher einfach wirklich gute Geschichtenerzähler sind. Immer wieder werden die persönlichen Duelle, sowohl auf als auch neben der Rennstrecke, geschickt genutzt um klare Identifikationspunkte zu schaffen und Spannungsbögen aufzubauen, damit dem Publikum auch ja keine Atempause vergönnt sei.
Vor allem das Duell Senna gegen Prost bietet hier natürlich riesiges Potential. Auf der einen Seite der instinktgetriebene und emotional aufgeladene Senna, dem man die Leidenschaft für seinen Sport in jeder Sekunde anmerkt. Auf der anderen Seite der kühle und berechnende Prost, der aus taktischen Gründen auch mal auf die Bremse drückt und stattdessen mehr Energie in die Beziehungspflege mit einflussreichen Sportfunktionären zu stecken scheint. Hier sind die Sympathien natürlich schnell verteilt, spätestens dann, als sich Prost mit Hilfe seines Landsmannes Jean-Marie Balestre, dem damaligen FIA-Präsidenten, auf sehr fragwürdige Weise den Weltmeistertitel sichert. Wer den arroganten und selbstverliebten Balestre hier in den Fahrersitzungen, deren Aufnahmen sicherlich zu den faszinierendsten des Films gehören, erlebt, der kann sich kaum einen besseren Bösewicht vorstellen. Da gleichzeitig auch Prost in Interviews seine Abneigung gegenüber Senna nur zu gerne Ausdruck verliehen hat, gibt es genug faszinierendes Material um aus all dem ein grandioses Duell zu basteln. Und genau dieses Potential nutzt der Film wirklich perfekt aus um uns so geschickt in seinen Bann zu ziehen.
Natürlich kann man nun einwerfen, dass es auch ein bisschen schade ist, dass der Film eigentlich nur von seinem Originalmaterial lebt. Denn die in "Senna" integrierten Kommentare zahlreicher Sportjournalisten vermitteln nun nicht wirklich neue Einblicke in das Leben des Rennfahrers, ebenso wenig wie die emotionalen Statements seiner Schwester. Interessanter wären da wohl aktuellere Aussagen ehemaliger Weggefährten gewesen, wie zum Beispiel einstige Rennfahrerkollegen oder Mechaniker, doch die kommen so gut wie nie zu Wort. Vor allem was ein gewisser Alain Prost, der sich leider nur ganz kurz dazu äußert, heute über Senna denkt, wäre sicher faszinierend zu erfahren. Aber vielleicht hätten gerade solche ausführlichen neuen Interviews dann auch wieder für einen Bruch im Film gesorgt, denn die Statements von Prost bezüglich Senna würden heute wohl deutlich nüchterner und emotionsloser klingen als noch vor 20 Jahren. Und wenn dieser Film eines nicht sein möchte, dann emotionslos.
So könnte man also hier einen Schlussstrich ziehen und den Leser direkt mit einer dicken Empfehlung in Richtung Kino schicken. So einfach ist das aber dann auch wieder nicht, denn man muss schon darauf hinweisen, dass der Film natürlich vor allem auch deswegen so einen faszinierenden Reiz ausübt, weil sein Protagonist eben ein so tragisches Schicksal ereilt. Und nicht nur das, die Macher bauen auch immer wieder geschickt Szenen ein, die uns stets daran erinnern was denn nun am Ende auf Senna wartet. Manchmal ist das ganz offensichtlich, wenn zum Beispiel die Mutter von Senna ihre Sorgen über den gefährlichen Sport ihres Sohnes äußert. Oft ist das Ganze aber auch etwas subtiler eingebaut, wenn Senna zum Beispiel darüber philosophiert, das er ja noch so jung ist und viel Zeit zum Lernen hat. Hier setzt man das tragische Schicksal Sennas schon ganz bewusst als melodramatisches Spannungsmittel ein und das ist dann natürlich schon etwas grenzwertig.
Richtig heftig wird es dann aber gegen Ende, wenn melodramatische Musik und Slow-Motion die letzten Stunden Sennas einläuten. Fast unerträglich ist vor allem die letzte Runde Sennas, die direkt aus der Sicht der Cockpit-Kamera gezeigt wird. Hier schlüpft man im Wesentlichen in die Augen eines Todgeweihten, was schon eine sehr bedrückende Vorstellung ist. Da ist das Wort Faszination dann auch unangebracht und irgendwie fühlt man sich in diesem Moment als Zuschauer nicht wirklich wohl in seiner Haut.
Natürlich verfehlen diese Bilder ihre Wirkung nicht und natürlich bleibt hier kein Auge trocken, aber kann man da noch von Kinogenuss sprechen? Rechtfertigt die Tatsache, dass Senna eine Person öffentlichen Interesses war, das Zeigen solcher Aufnahmen? Ist es wirklich in Ordnung, dass die Macher bewusst den Tod Sennas als Spannungsmittel benutzen? Diese Fragen muss letztendlich jeder für sich selbst beantworten, ein kleiner Beigeschmack bleibt aber auf jeden Fall übrig. Aber das ist bei der Dokumentation einer solchen Geschichte, der ja an sich schon eine so unglaubliche Dramatik beiwohnt, wohl einfach unvermeidbar.
Man denke da nur an eine Anekdote, die erstaunlicherweise im Film nicht erwähnt wird, obwohl sie geradezu prädestiniert dafür wäre. Zwei Tage nach Sennas tödlichem Unfall entdeckte man im Wrack seines Wagens eine österreichische Flagge. Diese Flagge hätte Senna wohl bei einem möglichen Sieg in Gedenken an den Tags zuvor ebenfalls auf der gleichen Strecke tödlich verunglückten österreichischen Rennfahrer Roland Ratzenberger geschwenkt. Würde sich so etwas ein Drehbuchautor ausdenken, man würde in wohl wegen übertriebenem Pathos sein Skript um die Ohren schlagen. Das wahre Leben ist manchmal eben einfach dramatischer als jeder Hollywood-Film. So ist "Senna" dann ein packendes Stück Filmkunst geworden, bei dem man aber ruhig mal kurz darüber nachdenken sollte, warum der Film einen denn nun so in seinen Bann zieht.
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