Victoria ist ein junger Mensch, wie es sie in den Szenevierteln der deutschen Hauptstadt zu Zehntausenden gibt. Mit Mitte Zwanzig aus allen möglichen Ecken der Welt (in Victorias Fall: Spanien) vom Leben nach Berlin gespült, wo man nun seine Freiheit genießen möchte, auch wenn das Budget dafür eher schmal ist, da man oft nur einen schlechtbezahlten Gastro-Job ergattern konnte. Darum verlässt Victoria auch mitten in der Nacht den Kellerclub, in dem sie tanzen war, weil sie am frühen Morgen das Café öffnen muss, in dem sie für einen Hungerlohn jobbt. Am Ausgang kreuzen sich ihre Wege mit einer vierköpfigen Männerclique, der aufgrund mangelnden Bargelds der Eintritt verweigert wird, und so tritt man zufällig im selben Moment wieder hinaus auf die Straße. Wie das in so einer Situation so ist tauscht man in etwas holprigem Englisch ein paar Sätze aus, und das harmlose Gepose, welches die vier Jungs auf der Straße nun für Victoria veranstalten, ist amüsant genug, als dass sie sich noch auf ein Bier mitschleifen lässt. Besonders Sonne (Frederick Lau) bemüht sich um die Spanierin und so langsam bahnt sich ein süßer Flirt zwischen den beiden an, der diese Nacht vielleicht noch magisch machen könnte. Bis Sonnes Kumpel Boxer (Franz Rogowski) die traute Zweisamkeit mit plötzlicher Unruhe unterbricht. Nach einem kürzlichen Knastaufenthalt schuldet Boxer einem Gangster noch einen Gefallen, der nun unvermittelt eingefordert wird - jetzt sofort. Boxer braucht drei Begleiter, da Cliquen-Mitglied Fuß (Max Mauff) alkoholbedingt aber ausfällt, muss Sonne seinem Kumpel zuliebe kurzerhand Victoria rekrutieren für einen Einsatz, von dem niemand weiß, was eigentlich auf sie zu kommt. Kurz darauf sieht man sich kollektiv zu einem Verbrechen erpresst, und auch wenn die Sache im Prinzip ziemlich simpel klingt, so sind die äußeren Umstände und die mangelnde Coolness aller Beteiligten ein todsicheres Rezept für ein Desaster...
So, und das alles jetzt bitte ohne Schnitt, in einer einzigen Einstellung, über zweieinviertel Stunden. Das Herausragende, Besondere, Einmalige an "Victoria" ist seine Machart. Denn der Film wurde tatsächlich in einem einzigen Take gedreht. Alles, was passiert, geschieht in Echtzeit, die Handkamera weicht vom ersten Moment bis zum Abspann nicht von Victorias Seite, und so ist dieser Film zuerst und vor allem ein handwerklicher Triumph, eine technische Errungenschaft, die ihresgleichen sucht - nicht nur in Deutschland, sondern global. Es gehört schon ein gewisser Wahnsinn dazu, solch einen Film in solch einer Form umzusetzen, und so ist der fast größte Star von "Victoria" der Mann hinter der Linse, der norwegische Kameramann Sturla Brandth Groøvlen, der sich mit Regisseur Sebastian Schipper auf diesen Irrwitz eingelassen hat und diesen gesamten Film in drei verschiedenen Nächten dreimal komplett abdrehte, bis man einen Take geschafft hatte, mit dem man zufrieden war.
Es liegt in der Natur dieser Inszenierungsform, dass fürs Publikum in vielen Augenblicken die Übersichtlichkeit verloren geht. Die Kamera muss sich gerade in den hektischen Momenten, die sich in der zweiten Filmhälfte immer mehr häufen, schon genug anstrengen, um mit den Figuren Schritt zu halten. Eine klar bebilderte Orientierungshilfe für den Überblick über die Gesamtsituation bleibt da natürlich nur noch ein frommer Wunsch in den Augen manch eines Zuschauers, der sich die klare Bildsprache eines konventionellen Mainstream-Films wünscht. Wer sich mit Wackelkamera-Optik noch nie anfreunden konnte, der wird an "Victoria" definitiv keine Freude haben.
Aber selbstverständlich ist diese Wahl der Inszenierung mehr als ein bloßer technischer Gimmick, sie ist essentiell für das Gefühl, dass "Victoria" vermitteln möchte. Sie ist das einzig probate filmische Mittel um die abenteuerliche Unberechenbarkeit einer solchen Großstadt-Nacht einzufangen. Wenn man den Mut und die Bereitschaft mitbringt, sich einfach treiben und dahin mitnehmen zu lassen, wohin der Moment einen gerade zieht. Wenn Victoria am Anfang schon auf ihrem Fahrrad sitzt und kurz davor ist, davon zu fahren, als die Jungs sie noch auf ein Bier auf einem Häuserdach einladen, dann spiegelt sich im Gesicht der grandiosen Hauptdarstellerin Laia Costa genau das Gefühl, das solch eine Nacht ausmacht: Eine Mischung aus Angst, weil sie nicht wissen kann, was genau sie erwartet, und Neugier, weil genau das die Situation spannend und aufregend macht. Es sind letztlich genau solche Momente, die Menschen wie Victoria nach Berlin bringen, wo man sich ins Nachtleben wirft mit der Bereitschaft, sich vom Unbekannten mitreißen zu lassen und nicht zu wissen, wo genau man wieder herauskommen wird, wenn die Sonne aufgeht.
Es geht um bewusste Aufgabe der Kontrolle, der Öffnung fürs Chaos, die Suche nach dem Erlebnis. Darum ist es kein Wunder, dass Victoria die Jungs bereitwillig begleitet und auch im weiteren Verlauf zu nichts Nein sagt, was neue und zunehmend gefährliche Unwägbarkeiten mit sich bringt. Und darum ist die Wahl der filmischen Mittel hier auch nur konsequent, denn eben nur, indem der ganze Film in einer einzigen Einstellung gedreht ist, dem Publikum nichts vorenthält und es ohne jede Trickserei an der organischen Eskalation der Ereignisse teilhaben lässt, schafft es "Victoria" mit seiner Dynamik ein Gefühl von Glaubwürdigkeit zu erlangen: Dass es mitten in einer ganz normalen Berliner Nacht absolut im Bereich des Möglichen liegt, binnen zwei Stunden von einem harmlosen Flirt am Clubausgang bis dahin zu gelangen, wo wir Victoria 130 Minuten später wieder verlassen werden.
Es ist unvermeidlich, dass der Film dabei in vielen Momenten unperfekt ist - das ist Teil seines Charmes, Teil seiner einmaligen Atmosphäre, und irgendwie auch Teil seiner Authentizität. Die ersten 40 Minuten haben ein paar spürbare Längen, während man der Annäherung zwischen Victoria und Sonne zuschaut. Eben weil der Film sich jedem Schnitt und damit jeder Verdichtung der Situation verweigert, wird es hier stellenweise etwas behäbig, zugleich muss "Victoria" sich aber unbedingt diese Zeit nehmen, um eine glaubhafte Chemie und Verbindung zwischen seinen zwei zentralen Figuren aufzubauen, die schließlich den Rest des Films tragen müssen. Wenn "Victoria" sich dann von einem charmanten Großstadtflirt-Film in einen hektischen Krimi-Reißer verwandelt, wird die Glaubwürdigkeit schon arg strapaziert - die kriminelle Unterwelt, in die Victoria mit den Jungs gerät, und die zusehends törichten (um nicht zu sagen: dämlichen) Entscheidungen, welche die Gruppe im Folgenden in der Hitze des Moments trifft, können bei näherem Betrachten ihre Konstruiertheit kaum verhehlen, sie sind oftmals nicht mehr als Mittel zum Zweck, um die nächste dramatische Zuspitzung zu erzeugen in einem Film, der sich eben keinen einzigen Zeitsprung erlauben kann. Zu diesem Zeitpunkt ist man jedoch auch als Zuschauer schon so sehr mitgerissen von der unbändigen kinetischen Energie dieses Films, so sehr selbst Teil des Moments, dass man sich daran kaum stören wird - falls man es überhaupt bemerkt, und nicht erst bei der nachträglichen Reflexion darüber, was einem da eigentlich gerade erzählt wurde.
Riesigen Anteil am besonderen Sog von "Victoria" haben natürlich auch die Darsteller. Die Entdeckung Laia Costa ist eine schiere Sensation, doch auch die vier Männer um sie herum leisten gerade in ihrem Zusammenspiel Großartiges. Lau, Rogowski, Yigit und Mauff schaffen es perfekt, das eigentümliche Miteinander einer solchen Männerfreundschaft-Truppe einzufangen, dieses permanente Pendeln zwischen gegenseitiger Fopperei, Beschimpfung und ungelenken Zeichen der Zuneigung. Was die Vier in den ersten zehn Minuten des Films auf einer nächtlichen Berliner Straße veranstalten, wirkt völlig banal, ist in seiner Authentizität jedoch von essentieller Bedeutung, um das Publikum in den Film hinein zu ziehen und es an die Figuren glauben zu lassen. Es ist kein Zufall, dass die Chemie dieses Viererbunds zu den größten Stärken von "Victoria" gehört, schließlich hat selten ein deutscher Regisseur das Thema Männerfreundschaft so treffend und ehrlich eingefangen wie Schipper in seinen beiden grandiosen ersten Filmen, "Absolute Giganten" und "Ein Freund von mir".
Zusammen mit dem zu vernachlässigenden "Mitte Ende August" ist dies hier erst Schippers vierte Regiearbeit in 16 Jahren, doch sie belegt einmal mehr eindrucksvoll, dass er einer der bemerkenswertesten Filmemacher ist, die wir in Deutschland haben. Bei seiner Premiere auf der diesjährigen Berlinale sorgte "Victoria" für mächtig Furore auch unter den internationalen Pressevertretern. Es ist zu wünschen, dass er jetzt auch bei seinem konventionellen Kinostart für ein wenig Furore sorgen wird. Er ist jedenfalls fraglos der filmisch aufregendste Streifen, den Deutschland in den letzten paar Jahren hervorgebracht hat.
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