Stell dir vor, du wachst in einem würfelförmigen Raum auf, mit einer Seitenlänge von knapp vier Metern. In jeder Wand (inkl. Decke und Boden) ist eine kleine Tür eingelassen, die jeweils in einen weiteren, identischen Raum führt. Einziger Unterschied: Die Wände haben verschiedene Farben. Achja, und in manchen Räumen warten ziemlich häßliche Fallen, garantiert tödlich. Wie du hier rein gekommen bist? Was das Ganze überhaupt soll? Zweitrangig. Versuch erstmal, lebendig wieder raus zu kommen.
Dies ist die ebenso einfache wie geniale Prämisse des ebenso einfachen wie genialen SciFi-Meisterstücks „Cube“ aus dem filmisch ansonsten weniger spektakulären Lande Kanada. Das für 300.000 Dollar entstandene Regie-Debüt von Vincenzo Natali, das nur ein Set und sechs Darsteller benötigte, ist schon fast drei Jahre alt. Nach einem langen Weg über diverse Festivals und beeindruckenden Siegeszügen auf dem Videomarkt in Frankreich und Japan hat sich schließlich sogar ein Verleiher gefunden, der dieses Kleinod in die deutschen Lichtspielhäuser bringt. Jeder Freund von innovativen Filmkonzepten und alle, denen „Big Brother“ nicht weit genug ging, sollten sich diesen Kick nicht entgehen lassen.
Insgesamt sechs Personen wachen in dem Würfellabyrinth auf (eine siebte Person wird in der Eröffnungsszene auf sehr beeindruckende Art und Weise „gewürfelt“): der Polizist Quentin, die Schülerin Leaven, die Ärztin Holloway, der Architekt Worth, der Ausbrecherkönig Rennes und der Authist Kazan. Jeder von ihnen scheint über ein Talent zu verfügen, das bei der Flucht aus dem gigantischen Knast behilflich sein könnte. Doch bevor man sich dessen gewahr wird, geht natürlich eine Menge wertvolles Gedankengut für die „großen Fragen“ drauf: Wer hat dieses Ding gebaut? Wofür soll es gut sein? Wieso wurden gerade sie hineingesteckt? Der pragmatische Quentin, der sich schnell zum Anführer aufschwingt, vertritt das „Eins nach dem anderen“-Prinzip: Erstmal raus, über das wieso und warum kann man sich danach Gedanken machen. Klingt ganz vernünftig, sorgt aber auch schnell für einen Konflikt zwischen Quentin und der „Große Fragen“-Freundin Holloway, die gerade hier des Rätsels Lösung sieht: Wenn wir hinter das „Warum“ kommen, kommen wir vielleicht auch auf das „Wie raus“. Der Ausbrecherkönig Rennes erweist sich als nicht ganz so nützlich wie anfangs vermutet, kann jedoch eine tödliche Falle aufdecken und einen entscheidenden Überlebenshinweis liefern: „Ihr müsst euch vor euch selbst retten.“
Er hat ja so recht. Je länger sich die Gruppe von einem Raum in den nächsten vorkämpft, je größer Hunger, Durst und Verzweiflung werden, desto mehr kommen die wahren, egoistischen Ichs zum Vorschein: Aggressionen und Antipathien entladen sich immer unkontrollierter, anstatt zusammenzuarbeiten (was eindeutig der einzige Weg nach draußen ist), arbeitet man immer mehr gegen einander. Und während die mathematisch begabte Leaven so langsam hinter den Zahlencode steigt, mit dem alle Räume versehen sind, gerät die Gruppendynamik zusehends außer Kontrolle. Dabei ist der Weg raus wesentlich einfacher, aber auch wesentlich komplizierter, als alle dachten.
„Cube“ ist in seinem minimalistischen Aufbau und in seiner hautnahen Dramaturgie fast schon grausam effektiv: Von der ersten Sekunde an wird der Zuschauer mit in das Würfel-Chaos hineingezogen, mit den tödlichen Konsequenzen jeder Unvorsichtigkeit auf drastische Weise vertraut gemacht, und erleidet zusammen mit den paralysierten Protagonisten ein stetig ansteigendes Gefühl von Klaustrophobie und Paranoia. Was dabei herauskommt ist ein nihilistisches, aber vor allem unangenehm wahres Bild des menschlichen Willens zum Überleben: Ab einem bestimmten Punkt geht es nicht mehr um das Wir, sondern nur noch um das Ich. Da wird das Überleben des anderen als eine Gefahr für das eigene Fortbestehen angesehen, obwohl man zusammen immer noch am meisten erreichen könnte. Homo homini lupus, wie der Lateiner sagt: Der Mensch ist des Menschen Wolf. Wie wahr, wie wahr.
Wie ein jeder typischer Vertreter aus der Schublade „Vom Nichts zum Hit“ glänzt auch „Cube“ neben einem genial-simplen Grundprinzip und einer dichten Atmosphäre mit einer extrem einfallsreichen Inszenierung, sehr guten, wenn auch größtenteils völlig unbekannten Darstellern (einzig Nicole deBoer, die in der letzten Staffel von „Deep Space Nine“ den Dax-Symbionten durch die Gegend trug, wurde nachträglich etwas berühmter), und einer beeindruckenden Metaphorik (wie bei jeder guten SciFi-Story liegt der eigentliche Kern im Hier und Jetzt). Überraschend gut sind für das geringe Budget hingegen die Spezialeffekte: Ein kanadisches Effekt-Studio stellte diese zum Nulltarif her. Das ist wirklich lohnende Filmförderung.
Die einzigen Abzüge handelt sich „Cube“ durch eine Charakterentwicklung ein, die im Einzelfalle etwas zu weit geht, sowie durch ein Ende, das die nihilistische Attitüde einen Schritt weiter führt, als es dem Film und auch der inneren Logik gut tut. Was übrig bleibt ist aber nach wie vor eine erstaunliche, innovative, beeindruckende und extrem packende Perle des Independent-Kinos, die nicht nur beweist, daß man auch für wenig Geld einen superben SciFi-Film machen kann, sondern auch, daß Kanada wesentlich mehr zu bieten hat als Wälder, Seen und Grizzly-Bären.
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