Auf einem Bahnhof in London fährt ein Zug ein. Die Kamera bewegt sich ruhig gegen den Strom der aussteigenden Fahrgäste, um erst beim letzten Wagon zu verweilen. Ein seltsamer Mann, mit einem verwahrlosten Trenchcoat und einem Koffer in der Hand, verlässt den Zug. Mit seinem angsterfüllten, desorientierten Blick und den gemurmelten, kaum verständlichen Wortfetzen, wirkt er auf dem Bahnsteig auffallend deplaziert.
Diese Sequenz zu Beginn von David Cronenbergs "Spider" wird die einzige bleiben, in welcher der Zuschauer die Rolle eines objektiven Beobachters annehmen kann. Der kanadische Regisseur, dessen einst von der Kritik verschmähte Horror-Frühwerke "Shivers" (1975), "Rabid" (1976) und "The Brood" (1979) längst rehabilitiert worden sind, und der sich seit Ende der Achtziger sogar einer Auseinandersetzung im Feuilleton erfreut, kehrt mit "Spider" zu einem für ihn charakteristischen Thema zurück: der subjektiven Rekonstruktion der Realität eines psychotischen Menschen.
Der merkwürdige Mann auf dem Bahnsteig ist Dennis Cleg (Ralph Fiennes), der von seiner Mutter als Kind den Spitznamen "Spider" erhielt. Nach vielen Jahren ist er zwecks Wiedereingliederung in die Gesellschaft aus einer Psychiatrischen Anstalt entlassen worden. Sein erster Weg führt ihn in die Obhut der resoluten Mrs. Wilkinson (Lynn Redgrave), in deren Pension Spider ein sparsam eingerichtetes, klaustrophobisches Zimmer bezieht. Nur einen Steinwurf entfernt liegt die Gegend, in der Spider seine Kindheit verbrachte. Bei seinen täglichen Ausflügen in das verlassene Industriegebiet des Londoner East End versucht er, sich die vergangenen Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, die einst sein Leben so grundlegend veränderten.
Auf der Suche nach dem traumatischen Kern, der tief in seiner Erinnerung von schützenden, erst abzutragenden Schichten umgeben ist, unternimmt Spider fiktive Wanderungen in die Tage seiner Jugend. Er erlebt noch einmal die Umstände, die zum Tod seiner Mutter (Miranda Richardson) führten. Der Vater (Gabriel Byrne) und seine Geliebte scheinen hierfür verantwortlich zu sein. Doch ob man Spiders mitunter widersprüchlichen Erinnerungsfragmenten glauben darf, wird im Laufe der Zeit immer undurchsichtiger.
David Cronenbergs Filme führen seit jeher ihren eigenen Diskurs. Auch in "Spider" überschreitet er Genrekonventionen und steckt die persönliche Suche nach dem inneren Selbst in das visuelle Gewand des Horrorfilms. Das London der Gegenwart ist in düstere, eindringliche Bilder getaucht und bildet mit seiner kalten Architektur und dem minimalistischen Stadtbild die optische Analogie zum Seelenzustand des Protagonisten.
Spider erscheint bei dem Versuch der Analyse seiner eigenen Existenz in einer ihm entfremdeten Welt wie ein moderner Nachfahre der existenzialistischen Dramen von Sartre und Camus. Im Hinblick auf die Fragwürdigkeit der eigenen Identität und die Darstellung von Vorgängen, die sich anscheinend nur im Bewusstsein der Hauptfigur abspielen, nähert sich Cronenberg ebenso den Werken Samuel Becketts. Um diese Einflüsse bildlich umzusetzen, hat der Regisseur sich für eine Figurenperspektive entschieden, die er konsequent durchhält: Es gibt im gesamten Film keine Szene ohne Spider. Was er nicht sieht, findet im Film nicht statt. Während der gedanklichen Exkurse in seine Kindheit (die er in einem Tagebuch mit hyroglyphisch wirkender Schrift festhält), wird er als unsichtbarer Beobachter dargestellt, der sich mitten in der Handlung befindet. Wenn Spider durch das Fenster seines Elternhauses schaut, sieht er sich selbst als Kind mit der Mutter am Küchentisch sitzen. Wir erkennen das Kind als Spider, da dieser die Worte des Jungen vor- bzw. mitspricht. Dieses Verfahren ist keine formalästhetische Innovation, da Woody Allen sich bereits im Jahre 1977 als "Stadtneurotiker" in ähnlicher Weise inszenierte.
Bei Cronenberg wird es jedoch um eine neue Dimension erweitert. Dem Zuschauer wird allein Spiders Sicht der Geschehnisse gezeigt, die aufgrund seines verwirrten Geistes in ihrer Authentizität mit dem Makel des Zweifels behaftet ist. Die subjektive Wahrnehmung der Filmrealität durch die Augen des Hauptdarstellers lässt den Protagonisten zur einzigen Informationsquelle des Zuschauers werden, der sich mithin seiner ihm innewohnenden Differenzierungsfähigkeit zwischen Realität und Fiktion beraubt sieht.
David Cronenberg, der einst für seine Virtuosität in der Erfindung radikaler Bilder bekannt war, kommt in "Spider" gänzlich ohne fantastische Elemente oder Spezialeffekte aus, was den Film in die Nähe seines 1989 erschienenen "Dead Ringers" rückt. Der Schrecken, der sich beim Regisseur so häufig in der physischen Deformation des Körpers artikuliert, ist in beiden Filmen in das Innere der Charaktere verlagert. Die Cronenberg-Freunde der ersten Stunde, die eine mögliche Rückkehr zur organischen Bilderstilistik der frühen Jahre erwarten, werden womöglich enttäuscht sein.
Wer allerdings Spider, dessen seelische Zerrissenheit von Ralph Fiennes mitreißend dargestellt wird, auf seiner introspektiven Tour de Force folgen möchte, sieht sich dafür fürstlich belohnt. Der Film bietet eine Vielzahl existenzphilosophischer Betrachtungen, eine ödipal anmutende Grundproblematik und eine ganze Reihe von brillanten Metaphern (eine zerbrochene Fensterscheibe als spinnennetzförmiges Puzzle fasst beinahe den ganzen Film in nur einem Bild zusammen), die "Spider" vom reinen Unterhaltungskino weit entfernen.
Statt dessen ist Cronenberg ein zur Reflektion einladendes Gesamtwerk mit Sogwirkung gelungen, das in der vermittelten Grundatmosphäre filmisch zwischen den trügerischen Welten eines David Lynch und dem paranoiden Wahn von Roman Polanskis "Der Mieter" (1976) oszilliert.
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